Doris Uhlich
Doris Uhlich (*1977 in Oberösterreich) studierte „Pädagogik für zeitgenössischen Tanz“ am Konservatorium der Stadt Wien. Seit 2006 entwickelt sie eigene Projekte. Mit ihren Produktionen stellt sie gängige Formate und Körperbilder infrage: Sie arbeitet mit Menschen mit unterschiedlichen Biografien und körperlichen Einschreibungen, befragt das klassische Ballett auf seine Übersetzbarkeit in zeitgenössische Kontexte hin, öffnet die Tanzfläche für Menschen mit körperlicher Behinderung, zeigt die Potenziale von Nacktheit jenseits von einfacher Erotisierung und Provokation, untersucht auf vielschichtige Weise die Beziehung zwischen Mensch und Maschine oder setzt sich mit der Zukunft des menschlichen Körpers im Zeitalter seiner chirurgischen und genetischen Perfektionierung auseinander.
Im Werk der Choreografin steht oft die Beschäftigung mit Alltagsgesten oder auch, wie in SPITZE (2008) oder Come Back (2012), mit künstlichen Gesten – in diesen Fällen dem strikten Bewegungscode des klassischen Balletts – im Zentrum. Ihre Performances setzen sich häufig mit Schönheitsidealen und Körpernormen – so z. B. mehr als genug (2009), auseinander. Seit ihrem Stück more than naked (2013) beschäftigt sich Doris Uhlich in ihren Arbeiten zudem mit der Darstellung von Nacktheit jenseits von Ideologie und Provokation. Dabei nimmt Musik – besonders elektronische Tanzmusik von New Wave bis Techno – eine wichtige Rolle ein. Mit Habitat bespielte sie mit einem ravenden nackten Ensemble u.a. die Dominikanerkirche in Krems, die Fassade der Wiener Secession und die ehemalige Winterreithalle der k.u.k. Monarchie (Halle E im Wiener Museumsquartier) in ihrer bisher größten Performance mit 120 nackten Menschen. Für die Performance Ravemachine (2016) hat Doris Uhlich gemeinsam mit dem Tänzer Michael Turinsky den Nestroy-Spezialpreis für „Inklusion auf Augenhöhe“ gewonnen. Die 2018 im Tanzquartier Wien uraufgeführte Produktion Every Body Electric war 2019 u. a. zur Tanzbiennale in Venedig und zur Bienal Sesc de Dança in São Paulo eingeladen.
Weitere Preise, Auszeichnungen und Nominierungen: „bemerkenswerte Nachwuchs-Choreografin“ im Jahrbuch von Ballettanz 2008, Tanzpreis des bm:ukk (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur) für SPITZE 2008, Nennung zur „Tänzerin des Jahres„ in der Zeitschrift tanz 2011 und 2015, „award out- standing artist 2013“ im Bereich darstellende Kunst des bm:ukk (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur), Nennung zur „Choreografin des Jahres„ in der Zeitschrift tanz 2018 und 2019, Publikumspreis für Every Body Electric beim Our Stage – 4. Europäisches Bürgerbühnenfestival in Dresden 2019, Nestroy-Theaterpreis Nominierung für Habitat / Halle E in der Kategorie „Beste Off-Produktion“ 2020, Nestroy-Theaterpreis Nominierung in der Kategorie „Publikumspreis“ 2023, Österreichischer Kunstpreis 2024 des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport in der Sparte „Darstellende Kunst„, Österreichischer Musiktheaterpreis 2024 in der Kategorie „Beste Tanzproduktion“ für SONNE
Seit Herbst 2015 ist Doris Uhlich Lehrende für Tanz am Max Reinhardt Seminar in Wien und seit 2023 ist sie Lehrbeauftragte im Rahmen von „CAP - Master Contemporary Arts Practice“ an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw).
Doris Uhlich ist auch Choreografin und Intimacy Coach für Kinofilme, u.a. Alma & Oskar“ von Dieter Berner (2023).
Statement
Meine Arbeiten sind geprägt durch die Zusammenarbeit mit Performer*innen mit unterschiedlichen Biografien. Die Projekte haben diverse Formate, sie finden auf Bühnen statt, in Museen, an spezifischen Orten und variieren sowohl in ihrer Dauer (von drei Minuten bis hin zu mehreren Stunden), als auch in der Wahl der Perspektive (von frontal bis hin zu offenen Räumen, in denen die Zuschauer*innen sich frei bewegen). In manchen Arbeiten bin ich selbst die Interpretin meiner Ideen, in manchen nicht. Es gibt Arbeiten, die sich dem Tanz verschreiben und dadurch Bewegungsrecherchen in den Vordergrund rücken, und andere, die sich an der Schnittstelle von Tanz und Performance bewegen.
Kunst
Choreografie bedeutet für mich das Körperlichwerden meines Interesses am Menschen, genauer gesagt: an den Menschen sowie den Ordnungen und Systemen, die sie bauen, bedienen, denen sie ausgesetzt sind und die sich in sie einschreiben.
Ich begreife den Körper als ein „wandelndes Körperarchiv“, in dem die eigene Biografie sowie die Biografie der Welt eingelagert werden. Für mich ist die Haut eine durchlässige Struktur, daher sind ein Innerhalb bzw. Außerhalb des Körpers zu infrage stellende Ortsbezeichnungen. Ereignisse politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Art schreiben sich ein. the body is in the world, the world is in the body. Was lagern wir ein, was lagern wir aus? Wir gehen durch die teils selbst-, teils fremdbestimmte, unendlich komplexe Choreografie unserer Biografien.
In und (2007) hat ein 88-Jähriger Performer während der Probe gesagt: „Ich bin heute alles. Ich bin der 8-Jährige, ich bin der 20-Jährige, ich bin der 88-Jährige. Alles fällt im Jetzt zusammen.“ Die komplexe Verwebung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Körper beschäftigt mich seither.
Auch der Raum ist ein Körper mit Einlagerungen. Im Raum, der den Körper umgibt, sitzt, steht, fliegt, ruht, pulsiert die Gegenwart samt ihrer Vergangenheit und Projektion der Zukunft. Ich suche nach physischen Ventilen, um die komplexe Gegenwart als einen beweglichen Körper zu begreifen, den ich mitgestalten kann.
Sound und Musik sind Klangkörper, die sich in den Luftmolekülen einlagern, sich ausbreiten. Sound kann man schwer aufhalten, er weitet sich aus, soweit seine Schallwellen sich ausbreiten. Im Theater bedeutet das, dass er keine Grenze zieht zwischen Bühne und Zuschauerraum. Er kann die beiden Räume verbinden. In der Beschäftigung mit elektronischer Musik, die von Kraftwerk „electronic body music“ genannt wurde, um die körperliche Wirkung elektronischer Sounds zu beschreiben, interessiert mich die Vielfältigkeit der Sounds, ihr Energievolumen und die Möglichkeit, dass man Sounds unendlich lange mischen kann.
Bewegung hat das Potenzial, seismisch zu sein. Sie kann sich ausbreiten und in ihrer Energie ansteckend sein. i body you, you body me.
Jeder Mensch kann tanzen. Tanz soll keinen normativen Regeln, keinen Reglementierungen, keinen Dogmen und keiner Notwendigkeit konformer Körper unterworfen sein. Ich glaube an die emanzipatorische Kraft von Tanz, an tänzerische Emanzipation, die für jeden zugänglich ist. Bühne soll eine offene Welt sein, in der unterschiedliche Menschen existieren.
Das Leben ist kein Solo, das Leben ist ein Ensemblewerk. Ich forsche nach einem Teilen, Übertragen und Transformieren von Energien und suche nach Fragestellungen, die sowohl ein solistisches als auch gemeinschaftliches Öffnen bzw. Weichwerden von festgefahrenen Anschauungen und Ansichten ermöglichen.
Pädagogik
Für mich bilden Pädagogik und Kunst ein Netzwerk, das aus unterschiedlichen (tanz)biografischen und gesellschaftlichen Begegnungen verflochten ist. Meine künstlerischen Ansätze übersetze ich gezielt für Menschen mit und ohne Tanzerfahrung, von Laien bis professionelle Tänzer*innen. Im Unterricht versuche ich angstfreie Räume zu schaffen. Wenn die Energie einer Bewegung wichtiger wird als ihre Form, erfährt man am ehesten, welche Motoren in den Körperzellen darauf warten, gestartet zu werden.